… Ganz leise kroch sie, zwischen den Säulen hindurch, in die Reihe der Mädchen, die sie mit keiner Silbe verrieten. Sie wollte schon erleichtert aufatmen, als sie vor ihrem auf den Boden gesenkten Haupt die Sandale einer Priesterin sah, die wütend mit den Zehen den Boden klopfte. „Wo kommst du so spät her? Du beleidigst den Gott zuerst mit deiner Neugierde und jetzt mit deiner Unpünktlichkeit.“ Es war die Hohe-Priesterin selbst, eine strenge ältere Frau, die Elena schon öfters zurechtgewiesen hatte. Elena hatte das Gefühl, daß diese Priesterin sie nicht besonders mochte und schickte ein Stoßgebet zur Göttin Athene, daß diese sie vor einer gar zu schlimmen Strafe beschützen sollte. Die Priesterin packte sie am Arm und riß sie unsanft von Boden hoch. Sie zog sie mit sich durch die Säulen ins Freie und fuhr sie dann an: „Du hast Glück! Normalerweise würde ich dich für deine Unpünktlichkeit zwei Tage in den Kerker sperren. Aber ich brauche dich, denn du bist eine der besten Akrobatinnen aus deiner Gruppe. In zwei Tagen haben die Priester des Minotaurus ein Fest anberaumt und die Arena wird umringt sein von vielen hohen Persönlichkeiten, die sich von der Geschicklichkeit der Gottgeweihten überzeugen wollen. So ganz ohne Strafe wirst du jedoch nicht ausgehen. Du wirst den Todessprung auf dem Stier vorführen und du hast nur diese zwei Tage um ihn zu üben.“ Mit funkelndem Blick, in dem leiser Triumph schwelte, drehte sich die Priesterin um und ließ das Mädchen stehen. Elena wußte nicht, ob sie erleichtert oder ängstlich sein sollte. Erleichtert, daß die Hohe-Priesterin gar nicht nach dem Grund ihres Zuspätkommens gefragt hatte, oder ängstlich, denn der Todessprung trugseinen Namen nicht umsonst! Sie wußte, daß sie sehr geschickt war in den Übungen mit den Stieren, aber diesen Sprung hatte sie noch nie versucht. Es war derselbe, bei dem sie Angelo das erste Mal gesehen hatte. Die Übung war so gefährlich, da man dicht neben den Kopf des Tieres springen mußte und man nie wußte, ob eine plötzliche Wendung des Stieres während oder nach dem Kunststück einen vor seinen gesenkten Hörnern landen ließ. Als sie an diesem Abend auf ihrer Matratze lag, dachte Elena an den jungen Mann, der umsonst auf sie warten würde, da sie die nächsten Tage nur mit Üben verbringen mußte und Trauer befiel ihr Herz.
*
Es blieb ihr wirklich kaum Zeit für ihre eigenen Gedanken, aber jede freie Sekunde dachte sie an zwei schwarze Augen, die sie mit seltsamer Intensität ansahen. …

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