Zwei Welten
Der eine Raum war der, wo stets Höflichkeit und liebenswürdige Behandlung ausgestrahlt wurden, der andere war ein Demütigungsplatz, eine Bastion der Geringschätzung. Dort kam man fröhlich und zufrieden mit einem Paket unterm Arm heraus - da wurde man immer grob hinauskomplimentiert, meist auch noch mit Schimpfkanonaden bedacht.
Es war dies "Lothar Klingel´s Ein- und Verkauf von Bekleidung aller Art".
Die beiden Räume waren durch eine große braune Tür miteinander verbunden, die selten, und wenn, dann nur für wenige Momente geöffnet wurde, nämlich nur, wenn Klingel oder sein Angestellter Fiedler vor den Augen der Kundschaft von einem Raum zum andern mußte. Diese Tür war somit auch die Barriere zwischen freundlichem und gehässigem Ton.
Klingel ging nie auf Urlaub, schon deswegen nicht, weil man in dieser Zeit keinen Umsatz machen konnte. So stand er - Sonn- und Feiertage ausgenommen - tagtäglich seine zehn Stunden im Geschäft, in einem bodenlangen Cloth-Mantel, mit randloser Brille auf der Knollennase und mit einer knapp über die buschigen Augenbrauen reichenden Pullmann-Kappe. Sein ebenfalls schwarz gekleideter Adlatus mit dem Ausehen und den zuckenden Bewegungen eines Pinseläffchens hatte jedoch einmal im Jahr Anspruch auf zwei Wochen Urlaub - und er machte auch Gebrauch davon.
Sehr zu Klingels Missbilligung, denn da mußte er sich selbst um beide Räume gleichzeitig kümmern.
Just zu dieser Zeit machte es uns Oberstufen-Gymnasiasten einen besonderen Spass, den meist in der Verbindungstür postierten Klingel zu besuchen und sein gespaltenes Verhalten zu studieren.
"Junger Mann, probieren sie doch das braune Jackett - das paßt ganz ausgezeichnet zu ihrem Typ", schmierte er dem Kunden um den Bart.
Sekunden später zischte er in die Einkaufsabteilung hinüber : "Diesen Ramsch können sie schon wieder einpacken. Das ist Kiloware, vielleicht zum Polsterfüllen.
Dafür kriegen sie nicht einmal ...
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