… Sie war viel zu selig darüber, daß die sie belastende Furcht, daß sie und Antef sich nach so langer Zeit nicht mehr verstehen könnten, unbegründet gewesen war. Es war, als wäre er nur einen Tag fortgewesen. Sie saßensich an einem vollbesetzten Tisch direkt gegenüber und so konnten sie immer wieder Blicke wechseln und sich unter dem Tisch mit den Füßen berühren. Zwischendurch hatte Nefer nun doch ihre Neugierde befriedigt und sich die Königsmutter genauer angeschaut. Sie war keine Schönheit im üblichen Sinn, aber das Alter sah man ihr nicht an. Sie war von strenger, zeitloser Attraktivität. Ihre Haut war fast so dunkel wie die von Nefers Mutter. Ihre Augen waren mandelförmig und tiefschwarz. Sie standen weit auseinander und gaben ihr einen gerissenen Ausdruck. Die vollen Lippen wurden von strengen Falten eingerahmt, das Kinn war energisch vorgeschoben. Es war klar daß diese Frau wußte, was sie wollte und dies auch durchzusetzen verstand. Nefer wandte ihren Blick wieder Antef zu und konnte es kaum erwarten, daß das Bankett beendet würde und die Sitzordnung aufgehoben. Kaum hatten die Musiker zu spielen begonnen, schlichen die beiden sich davon. Als Antef die Richtung des Gartens anstrebte, schüttelte Nefer den Kopf und zog ihn mit sich. In den letzten Jahren hatte sie den Palast kennengelernt und so führte sie den Arzt zielstrebig in den Innenhof und zu dem inzwischen groß gewachsenen Baum mit den hängenden Zweigen. Sie schlüpfte unter das Laub und zog ihn mit sich zu Boden. Er landete auf ihr und sie versanken in einem wilden Kuß. Als Antef kurz Atem schöpfte, sah er Nefer seltsam ernst an und flüsterte: „Schwester, meine geliebte Schwester.“ Nefer stockte der Atem und ein heißes Gefühl preßte ihr Herz zusammen ob dieser Liebkosung. Es gab kaum stärkere Worte um seiner Liebe zu einer Frau Ausdruck zu verleihen, als sie Schwester zu nennen. Fest preßte sie ihren Körper gegen den seinen, während seine Hände mit sanfter Intensität darüberstrichen. Keiner von beiden konnte sich jetzt noch zurückhalten. Zu lange hatten sie aufeinander gewartet und nun wurden sie von der Liebe und dem Verlangen mitgerissen wie vom wilden Wasser um die Katarakte.
*
Als Nefer viel, viel später in Richtung ihrer Gemächer schlich, war sie so glücklich wie noch nie. Die Sterne funkelten am dunkelblauen Firmament und schickten ihren matten Schein durch die Bogenfenster des Ganges, den Nefer mehr entlang tanzte als ging. …

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